Urformen – von der Achse zur gerichteten Tastfigur


Die Achse stellt die nächste Stufe der kindlichen Malentwicklung dar. Sie entwickelt die Wahrnehmung der Strukturen im Innern weiter. Nun entwickelt das Kind ein Gefühl für Symmetrie und Seitigkeit. Es beginnt das zu vergleichen, was es von außen wahrnimmt, mit dem, was es von innen kennt. In dieser Zeit fängt es an die Umwelt kennen zu lernen.

Die Achse, auf dem Umriss oder im Inneren des Körpers

Im Anschluß daran entdeckt das Kind mit dem Urkreuz die Orientierung seiner Innenwelt. Damit wird die Grundlage für die Orientierung im Raum geschaffen. Ein Gefühl für senkrecht – waagrecht, oben – unten, rechts – links entsteht. Das Urkreuz steht aufrecht im Raum. Diese Entwicklungsphase ist der Beginn des zielgerichteten Handelns.

urkreuz
Das Urkreuz

Mit den Pulspunkten wird es lebhaft. Sie drücken Bewegung und Leben aus. In der Körperwahrnehmung findet das Leben Ausdruck im Herzschlag, Puls und Atem.
Pulspunkte werden rhythmisch und mit Geräusch gemalt.

pulspunkte
Pock, pock, pock – Pulspunkte

Ein typisches Beispiel für Interpretationen von Kinderbildern ist die unorientierte Tastfigur. Zu verlockend ist es aber auch, darin eine Sonne zu sehen. Sie zeigt aber ganz allgemein auf, wie das Kind mit den ersten Schritten anfängt, sich die Umwelt zu erobern. Es geht weg, kommt zurück, um sich gleich darauf wieder zu entfernen. Die unorientierte Tastfigur zeigt uns dieses Lebensgefühl des Kindes.

Eine der Urformen, die unorientierte Tastfigur
Eine der Urformen, die unorientierte Tastfigur

Das Kind fängt nun an, sich im Raum zu orientieren. Es stellt nun fest, dass seine Wünsche nicht immer denen der Mutter entsprechen. Es beginnt die Mutter eindeutig der Umwelt zu zurechnen und entwickelt und äußert den eigenen Willen. Ausdruck dieser Befindlichkeit ist die gerichtete Tastfigur.

Die gerichtete Tastfigur
Die gerichtete Tastfigur

Urformen – vom Kritzelknäuel ins Zentrum

Gibt man einem Kind zum ersten Mal einen Stift in die Hand, fängt es schnell an loszukritzeln. Es entdeckt, dass es mit dem Stift, Spuren auf dem Papier hinterlässt.

Kritzelknäuel
Kritzelknäuel

Diese entsprechen den noch ziemlich ziellosen Bewegungen des Neugeborenen. So wie das neugeborene Kind noch keine räumliche Orientierung hat und sich seiner Körpergrenzen noch nicht bewusst ist, sind auch die Kritzellinien noch diffus und ungerichtet. Sie verdichten sich aber in kurzer Zeit zu Knäueln.
In der nächsten Stufe fängt das Kind an, sich als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Es entwickelt eine Richtung und fängt an Ich und Umgebung zu unterscheiden. Es beginnt, sich von der Mutter loszulösen.

Spirale
Spirale

In der Malentwicklung wird diese Entwicklung mit der Spirale wiedergegeben. Wir Erwachsenen sind spätestens jetzt in der Versuchung, Gegenstände in diese Bilder hineinzuinterpretieren, erinnert uns doch die Spirale vielleicht an ein Schneckenhaus. Damit werden wir aber der kindlichen Bildersprache nicht gerecht. Diese Urformen geben vielmehr die Wahrnehmung, insbesondere die Körperwahrnehmung der Kinder wider.

Die endgültige Entdeckung, dass der Körper eine Grenze hat und Ich ein eigenes Wesen bin, bildet der Kreis. Es gibt eine Innenwelt und eine Außenwelt.

Kreis
Kreis

Dieser Entdeckung folgt die Erkenntnis, dass die Innenwelt über Strukturen verfügt. Der Bauch und insbesondere der Nabel wird als Zentrum dieser Innenwelt entdeckt.

Ich bin der Nabel der Welt
Ich bin der Nabel der Welt

Die Malentwicklung der Kinder – Urformen überall gleich

Kritzelknäuel

Überall auf der Welt läuft die Malentwicklung der Kinder in einer gleichen Reihenfolge ab. Ganz egal ob Inuit oder Tuareg, gibt man Kindern ein Möglichkeit zu malen, werden sie überall auf der Welt bei den gleichen Urformen landen.

Arno Stern bereiste Mitte der 60ger, Anfang der 70ger Jahre Länder, die damals noch weitgehend unbeeinflußt von der Zivilisation waren (Guatemala und Papua-Neuguinea, Afghanistan und Peru, Äthiopien und Niger). Er lies Kinder malen, die noch nie zuvor Farbe und Papier hatten. Und er stellte fest, dass diese Kinder die gleichen Grundstrukturen malten, wie die Kinder in Paris. Wer mehr über Arno Sterns Hintergrund und seine Forschungsreisen erfahren möchte, findet in diesem Spiegel-Artikel Informationen dazu.

Das was in dem Artikel als Erstfiguren bezeichnet wird, wird von Helen Bachmann und Bettina Egger als „Urformen“ weiteruntersucht. Helen Bachmann wagt es, die Verbindung herzustellen, zwischen den Urformen und der kindlichen Individuation. Sie entdeckt dabei Parallelen zwischen den ungelenkten Bewegungen des Neugeborenen und den Kritzelknäueln, der ersten Urform, die aufs Papier gebracht wird. In ihrem Buch „Malen als Lebensspur“ beschreibt sie diese Urformen und die Entsprechungen in der Entwicklung ausführlichst.

Einen kurzgefassten Überblick darüber welche Urformen es gibt werde ich hier in den nächsten Tagen veröffentlichen.

Entwicklungshilfe?

Was bringt das begleitete Malen für die kindliche Entwicklung?

Eine der Urformen, die unorientierte Tastfigur

Dürften sich die Kinder beim Malen völlig frei entwickeln, so wäre begleitetes Malen fast unnötig.

Arno Stern hat es als Erster erforscht, die Malentwicklung der Kinder verläuft weltweit, wenn sie nicht beeinflusst wird, nach einem gewissen Schema. Sie beginnt mit den Urformen und endet mit der Entwicklung der perspektivischen Darstellung, etwa im 13. Lebensjahr. In dieser ganzen Zeit, ist das Malen weit mehr als nur ein netter Zeitvertreib. Malen ist ein wichtiges nonverbales Ausdrucksmittel. Malen ist Bestandteil einer ganzheitlichen Entwicklung und fördert die Integration von Körper und Seele. Malen schult die Wahrnehmung.
In diese Entwicklung wird jedoch immer wieder eingegriffen. Angefangen vom gut gemeinten „Ich zeig dir, wie man ein Haus malt“, bis hin zu schulischen und vorschulischen Aufgabenstellungen, bei denen das Malen nach Motivvorgaben zur rein feinmotorischen Übung entfremdet wird.
Dabei muss gar nicht mal die ganze Fördermaschinerie in Bewegung sein, die Auswüchse in Form von „Malen wie die Großen“ und ähnlicher Veranstaltungen enthält, in denen Kinder nach dem Techniken berühmter Künstler malen lernen sollen.
Schon das ganz „normale“ Ausmalbildchen anmalen oder auch die Vorgabe „malt ein Frühlingsbild“ lässt keinen Raum für die eigenen Ideen und Bilder.
„Was soll ich denn jetzt ein Frühlingsbild malen, wo doch beim Nachbarn gerade so ein toller, großer Bagger rumfährt“, mag sich da so manches Kind denken.
Bei vielen Kindern führt dies recht schnell dazu, dass Malen außerhalb des schulischen Pflichtrahmens, gar nicht mehr (freiwillig) gemacht wird. Frustration macht sich breit – „Ich kann das nicht!“. Vergleiche mit den Bildern anderer Kinder, die in der Entwicklung schon ein Stück weiter sind, verstärken diesen Frust.
Beim begleiteten Malen bietet das Atelier einen Schutzraum, in dem die eigenen Bilder zu ihrem Recht kommen und dem Entwicklungsstand entsprechend gemalt werden dürfen.

„Jeder malt so, wie er kann und will!“.

Dort ist die eigene Entwicklung beim Malen möglich, auch wenn die Einflüsse von Schule und Umwelt immer wieder spürbar werden.
Kommen Erwachsene ins Atelier, so ist ganz schnell zu erkennen, wann sie mit ihrer kindlichen Malentwicklung „aufgehört“ haben, an genau dem Punkt, geht es dann im begleiteten Malen weiter.