Ich male, was ich weiß

Das Alter etwa zwischen dem sechsten und dem elften Lebensjahr, die mittlere Kindheit oder auch Latenzzeit genannt, ist eine Zeitspanne, in der das Kind einerseits den Anschluss an die Erwachsenenwelt sucht, andererseits aber auch anfängt, sich ihrem Einfluss und ihrer Aufmerksamkeit zu entziehen.

Die Gleichaltrigen werden zunehmend wichtiger und zum Maßstab für das Verhalten und die Werte. Gemeinsame Spiele und Rituale gewinnen an Wert, die Gruppe gewinnt an Bedeutung. Der eigene Weg wird gesucht und die Versuche, sich die Welt zu erklären und einen Platz darin zu finden tritt in den Vordergrund.

Auch beim Malen spiegelt sich diese Entwicklung wieder. Helen Bachmann zeigt in ihrem Buch Die Spur zum Horizont: Malen als Selbstausdruck von der Latenz bis zur Adoleszenz einige Grundmotive auf, die in der Latenzzeit immer wieder auftreten.

Grundformen werden in immer neuen Varianten in Bilder umgesetzt. So kann beispielsweise der Bogen als Regenbogen, Haarreif oder auch bogenförmiges Tor auftreten.

Grundformen, die in den Bildern der größeren Kinder immer wieder auftreten

Das erinnert an die Urformen, unterscheidet sich von diesen aber dadurch, dass hier nicht mehr die Form als solche im Mittelpunkt steht, sondern in immer neuen Anlässen umgesetzt wird. Die Bildkomposition wird beispielsweise immer wieder vom Bogen beherrscht, dieser nimmt dabei aber ganz unterschiedliche Erscheinungen an.

Weitere wichtige Grundmotive in diesem Alter sind die Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft. Sie werden als sich ausdehnende Räume gemalt. „Da kommt ein Feuer und das brennt immer doller und jetzt brennt es überall“. Es geht gern auch noch spielerisch zu dabei – „Tatütata – jetzt kommt die Feuerwehr und spritzt Wasser auf das Feuer….überall, bis das Feuer gelöscht ist“. Beim Malen kann es dann durchaus passieren, dass so eine ganze Geschichte übereinander auf ein Blatt gemalt wird – wie gut, wenn dann die Farben so gut decken, dass das Feuer wirklich ganz mit Wasser gelöscht (übermalt) werden kann.

Auch rhythmische Bewegungen finden ihren Weg in die Bilder, da wird gestrichelt und gepunktet – gern auch von den entsprechenden Bewegungen und Geräuschen begleitet. Ganze Geschichten werden erzählt, gern auch über mehrere Blätter Papier hinweg.

Eines weiteres dieser Hauptmotive ist dabei der Weg, der in der kindlichen Malerei erstmals auftritt und uns noch eine Weile begleiten wird.

Unkreative Pubertät? Jugendliche malen anders

Wie Jugendliche malen
Wie Jugendliche malen

Irgendwann in der Pubertät machen sich die Veränderungen auch auf den Bildern bemerkbar. Jugendliche malen dann sehr symbolhaft, ob nun Herzen oder Peacezeichen. Schwarz wird gern verwendet, das Ganze erinnert mehr oder weniger stark an Popart.

Eigentlich verwundert mich das nicht. Eine Zeit, in der ich selbst nicht weiß, wer oder was ich nun wirklich bin oder werden will, verleitet dazu, sich an scheinbar Unverfänglichem festzuhalten. Ich muss nichts genauer definieren, kann das auch gar nicht, weil ich doch selbst ratlos bin. Das entspricht so in etwa dem Lebensgefühl dieser Altersklasse.

Helen Bachmann widmet in ihrem Buch „Die Spur zum Horizont“ den Jugendlichen recht viel Raum. Sie beschreibt die Jugendzeit als eine Suche nach dem Horizont, bei der das Ziel (der Horizont) immer sichtbar ist und doch bei jeden Schritt, den wir darauf zu machen, weiter in die Ferne rückt. Auffallend oft wird auch in den Bildern der Horizont ein Thema der Darstellung.  Man denke nur an Sonnenuntergänge, ob nun über einer Landschaft oder dem Meer. Auch Bilder, auf denen Wege bis an den Horizont führen, gibt es oft.

Wie oder was malen Jugendliche?

Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Motive, die ganz typisch in der Jugendzeit auftreten, wie zum Beispiel Pferde (speziell bei Mädchen) und Inseln.

Das mag den Eindruck erwecken, die Jugendlichen sind unkreativ. Soll man sie nun nicht mehr frei malen lassen? Ihnen Vorgaben geben, weil sie ja ohnehin keine eigenen kreativen Leistungen erbringen?

Mit Schaudern denke ich an meinen Kunstunterricht in der Mittelstufe zurück, bei einer Lehrerin, die das genau so sah und uns sehr strikte Themenvorgaben machte. Als Heranwachsende habe ich es gehasst und aus heutiger Sicht kann ich es nicht befürworten.

Auch die Jugendlichen brauchen Möglichkeiten sich auszudrücken, ein Stückchen Individualität in ihren Bildern zu entwickeln. Eine Chance, sich zu suchen und zu finden.

Ganz ausführliche Informationen dazu gibt es in Helen Bachmanns Buch, ich kann es nur empfehlen, wenn man tiefer in dieses Thema einsteigen will.

Urformen – von der Achse zur gerichteten Tastfigur


Die Achse stellt die nächste Stufe der kindlichen Malentwicklung dar. Sie entwickelt die Wahrnehmung der Strukturen im Innern weiter. Nun entwickelt das Kind ein Gefühl für Symmetrie und Seitigkeit. Es beginnt das zu vergleichen, was es von außen wahrnimmt, mit dem, was es von innen kennt. In dieser Zeit fängt es an die Umwelt kennen zu lernen.

Die Achse, auf dem Umriss oder im Inneren des Körpers

Im Anschluß daran entdeckt das Kind mit dem Urkreuz die Orientierung seiner Innenwelt. Damit wird die Grundlage für die Orientierung im Raum geschaffen. Ein Gefühl für senkrecht – waagrecht, oben – unten, rechts – links entsteht. Das Urkreuz steht aufrecht im Raum. Diese Entwicklungsphase ist der Beginn des zielgerichteten Handelns.

urkreuz
Das Urkreuz

Mit den Pulspunkten wird es lebhaft. Sie drücken Bewegung und Leben aus. In der Körperwahrnehmung findet das Leben Ausdruck im Herzschlag, Puls und Atem.
Pulspunkte werden rhythmisch und mit Geräusch gemalt.

pulspunkte
Pock, pock, pock – Pulspunkte

Ein typisches Beispiel für Interpretationen von Kinderbildern ist die unorientierte Tastfigur. Zu verlockend ist es aber auch, darin eine Sonne zu sehen. Sie zeigt aber ganz allgemein auf, wie das Kind mit den ersten Schritten anfängt, sich die Umwelt zu erobern. Es geht weg, kommt zurück, um sich gleich darauf wieder zu entfernen. Die unorientierte Tastfigur zeigt uns dieses Lebensgefühl des Kindes.

Eine der Urformen, die unorientierte Tastfigur
Eine der Urformen, die unorientierte Tastfigur

Das Kind fängt nun an, sich im Raum zu orientieren. Es stellt nun fest, dass seine Wünsche nicht immer denen der Mutter entsprechen. Es beginnt die Mutter eindeutig der Umwelt zu zurechnen und entwickelt und äußert den eigenen Willen. Ausdruck dieser Befindlichkeit ist die gerichtete Tastfigur.

Die gerichtete Tastfigur
Die gerichtete Tastfigur

Die Malentwicklung der Kinder – Urformen überall gleich

Kritzelknäuel

Überall auf der Welt läuft die Malentwicklung der Kinder in einer gleichen Reihenfolge ab. Ganz egal ob Inuit oder Tuareg, gibt man Kindern ein Möglichkeit zu malen, werden sie überall auf der Welt bei den gleichen Urformen landen.

Arno Stern bereiste Mitte der 60ger, Anfang der 70ger Jahre Länder, die damals noch weitgehend unbeeinflußt von der Zivilisation waren (Guatemala und Papua-Neuguinea, Afghanistan und Peru, Äthiopien und Niger). Er lies Kinder malen, die noch nie zuvor Farbe und Papier hatten. Und er stellte fest, dass diese Kinder die gleichen Grundstrukturen malten, wie die Kinder in Paris. Wer mehr über Arno Sterns Hintergrund und seine Forschungsreisen erfahren möchte, findet in diesem Spiegel-Artikel Informationen dazu.

Das was in dem Artikel als Erstfiguren bezeichnet wird, wird von Helen Bachmann und Bettina Egger als „Urformen“ weiteruntersucht. Helen Bachmann wagt es, die Verbindung herzustellen, zwischen den Urformen und der kindlichen Individuation. Sie entdeckt dabei Parallelen zwischen den ungelenkten Bewegungen des Neugeborenen und den Kritzelknäueln, der ersten Urform, die aufs Papier gebracht wird. In ihrem Buch „Malen als Lebensspur“ beschreibt sie diese Urformen und die Entsprechungen in der Entwicklung ausführlichst.

Einen kurzgefassten Überblick darüber welche Urformen es gibt werde ich hier in den nächsten Tagen veröffentlichen.

Es ist wichtig, den Weg zu gehen, bevor man am Ziel ankommt.

Es ist wichtig, den Weg zu gehen, bevor man am Ziel ankommt.

(Helen Bachmann in „Die Spur zum Horizont*“)

Der Weg
Es ist wichtig den Weg zu gehen

Was bedeutet das für die Arbeit am Bild?

Betrachten wir den Malvorgang als den Weg, das Bild als das Ziel. Im künstlerischen Malen habe ich ein fertiges Bild im Kopf, noch bevor ich zum Pinsel greife. Manchmal entwickelt es sich auch hier beim Malen weiter und in andere Richtungen, aber im Allgemeinen steht das Ziel fest.

Bilder, die im begleiteten Malen entstehen, entwickeln eine Eigendynamik. Sie dürfen, ja sollen sich erst beim Malprozess entwickeln. Deshalb wird das Bild auch nicht konstruiert oder vorgemalt, es soll rausdürfen, was aufs Papier will. Wenn die Malende gut im Kontakt mit ihrem Bild ist, kommen Themen an die Oberfläche, die ganz dicht unter der Bewusstseinsgrenze liegen.

In diesem Weg, im Malprozess, liegt die eigentliche Arbeit an der Persönlichkeit. Beim Malen kannst Du Dich selbst wahrnehmen und erfahren. Ist das für mich so stimmig? Oftmals werden dabei Bilder, die eigentlich ‚richtig‘ sind, als unstimmig empfunden und umgekehrt. Die Malbegleiterin macht auf solche Unstimmigkeiten aufmerksam und hinterfragt sie. Sie erkennt Vermeidungsverhalten und typische Verhaltensmuster. Am Bild kann jederzeit verändert  und nachgespürt werden, wie sich diese Veränderung anfühlt.

Dabei ist es unglaublich, wie schwer es fallen kann, eine Veränderung zu malen, die eigentlich ganz logisch und schlüssig ist. Und wenn sie dann gemalt ist, fühlt sich das sehr gut und stimmig an. Aber allein, wäre die Malende nie auf die Idee gekommen, das so zu malen.