Der zweite Teil des Interviews mit Rolf Höge:
Der Weg in die  zufriedene Abstinenz – bedeutet das letztendlich, für alle Situationen, in denen  zuvor der Alkohol eine Rolle gespielt hat, neue Wege zu finden?
Es bedeutet zunächst einmal, eine Entscheidung zu treffen,  nämlich die Entscheidung abstinent leben zu wollen. Damit ändert man die  Blickrichtung von ‚ich will nicht mehr trinken’ hin zu ‚ich will zufrieden  abstinent leben’
Wenn ich also diese Entscheidung getroffen habe, dann steht mir  das ‚Lösungsmittel’ Alkohol in all den Problemsituationen nicht mehr zur  Verfügung. Sich nach   Stresssituationen abends gemütlich mit einem Glas Rotwein zu entspannen,  taugt für einen Alkoholiker nicht als Entspannungsmethode. Sich mal eben etwas  Mut anzutrinken, bevor man beispielsweise eine Frau zum Tanzen auffordert, ist  ebenfalls nicht angesagt. Das Gefühl, sich ausgegrenzt zu fühlen, weil man auf  Partys keinen Alkohol trinkt, kann man   nicht einfach mal so wieder wegsaufen. Wenn die Entscheidung zur  Abstinenz wirklich getroffen wurde, steht die Krücke Alkohol nicht mehr zur  Verfügung. Und dann ist es tatsächlich so als würde man das Laufen neu  lernen.
Aus diesem Grund halte ich auch Selbsthilfegruppen für wichtig.  Denn dort sitzen trockene Alkoholiker, die bereits laufen können. Sie sind der  lebende Beweis dafür, dass ein Leben ohne Alkohol möglich und erstrebenswert  ist.
Nun sage ich in meinem Ratgeber „Quo vadis, Alki?“ nicht, was  man nun in der einen oder anderen   Problemsituationen tun soll anstatt zu trinken. Denn es geht ja um Wege  in eine „zufriedene“ Abstinenz, nicht um Trinkalternativen.
Zufriedene Abstinenz ist kein fertiges Produkt, kein Ideal, das  am Ende eines langen, schwierigen Weges steht. Man kann sie nicht suchen, um sie  letztendlich zu finden. Man muss sie entdecken, für sich ganz persönlich.  Das heißt, man wird nicht irgendwann an einem Zielpunkt ankommen, den man  dann „zufriedene Abstinenz“  nennt und den man nur zu halten braucht.
Zufriedene Abstinenz gleicht einer Entdeckungsreise, einer  langen  Fahrt und der Sinn dieser  Fahrt ist die Reise selbst. Dabei kann man auch schon einmal in einen Stau  geraten. Es gilt aber, sich auf dieser Fahrt selbst immer besser  kennen und verstehen zu lernen und dabei  mehr und mehr zu entdecken, was für einen ganz persönlich Zufriedenheit  bedeutet.
Je mehr wir   entdecken, was in unserem   Leben Zufriedenheit, Wohlgefühl, Lebensfreude und positive  Lebenseinstellung beinhaltet, um so mehr können wir bewusst und durch  eigenverantwortliches Handeln dafür sorgen, diese Zustände herbeizuführen  und zu steuern. Mit diesem Entdeckungsprozess erschaffen wir unser  eigenes  Wohlfühlland und gewinnen  an Lebensqualität. Das gilt nicht nur für Alkoholiker.
Wir selbst steuern unsere Reise aufgrund ganz persönlicher  Erfahrungen. Und so mag das, was mich zufrieden macht, nicht unbedingt jemand  anders auch zufrieden stellen. Zwei trocken Alkoholiker können also für sich  jeder einen anderen Weg in die zufriedene Abstinenz finden. Aber beiden ist die  Entscheidung gemeinsam, zufrieden ohne Alkohol leben zu wollen.
Um dies leben zu können, muss sich wiederum jeder für sich in  den unterschiedlichsten Lebenssituationen immer wieder fragen, ob das, was er  gerade lebt, im Einklang mit seiner Entscheidung steht. Und er muss für sich  natürlich heraus finden, was für ihn ganz individuell Zufriedenheit bedeutet,  damit er überprüfen kann ‚fühlt sich so Glück an?’
Darin gibt mein Ratgeber etwas Hilfestellung.
Welche Rolle hat Kreativität  dabei für Dich gespielt?
Nun, während meiner nassen Zeit, musste ich immer wieder Wege  finden, um mich am Stoff zu halten. Neue Lügen, neue Ausreden und vieles mehr.  Wissenschaftlich gesehen war ich also ‚kreativ’, denn ich hatte mir mit  fortschreitender Alkoholerkrankung die „ Fähigkeit erworben, neue  Problemstellungen durch die Anwendung dieser  Fähigkeiten zu lösen:“  Allerdings war das  sehr kontraproduktiv und hat mit der  Kreativität wie ich sie als trockener Alkoholiker und Künstler verstehe, nicht  viel gemeinsam.
Natürlich erwirbt man mit zunehmender Abstinenz auch neue  Fähigkeiten mit den unterschiedlichsten   Problemstelllungen umzugehen, ohne auf Alkohol zurückgreifen zu müssen.  Das ist aber ein Entwicklungsprozess, ein Produkt der Abstinenz.
In meinem Wohnzimmer hängen Bilder an der Wand, die ich selbst  gemalt habe. Die hängen nicht einfach da, weil ich nun eine Möglichkeit gefunden  habe, meine Wände selbst zu schmücken. Jedes Bild, jedes abstrakt gemalt,  spiegelt auch einen ganz bestimmten Aspekt meiner Persönlichkeit zu einem ganz  bestimmten  Zeitpunkt wieder. Mit  jedem Bild habe ich etwas aus mir „herausgedrückt“, was in mir war und mich  damit eben „ausgedrückt“.  Auf den  ersten Blick vielleicht  eine kleine  Wortspielerei. Näher betrachtet ist es aber genau das, was ich während meiner  nassen Zeit nicht konnte: das, was in mir war, auch auszudrücken.
Mein Kopf war oft voll mit „mentalem Ballast“, mit einem  Gedankengewitter, mit Selbstvorwürfen, Selbstverurteilungen, mit Tausenden von  „wenn“ und „aber“, die Gedanken drehten sich wie in einem Hamsterrad. Gute  Vorsätze hatte ich Tausende. Nichts davon konnte  ich umsetzen, denn alle Vorsätze waren  Teil dieses Hamsterrades, Gedanken, die sich abwechselten. Ruhe bekam ich nur,  wenn ich das alles wegsoff, mir das Gehirn zu ballerte.
Und jetzt komme ich zu dem kreativen Prozess! – Alles, was einen  Menschen dazu befähigt, vom Denken ins Handeln zu kommen, bezeichne ich als  einen kreativen Prozess, der lebendig macht. Man ist nicht mehr passiv seinen  Gedankenströmen ausgeliefert, sondern hält   das Hamsterrad an. Das Anhalten führt ins Jetzt, in den gegenwärtigen  Augenblick und damit in die Handlungsfähigkeit. Welche neuen Handlungsweisen man  nun anwendet, anstatt in gewohnte Muster zurück zu fallen, ist eine Frage des  kreativen Prozesses, den man bevorzugt. Das kann das Schreiben,  das Malen, das Singen oder jede andere  Aktion sein. Die Betonung liegt auf „Aktion“, nicht auf „denken“.
In  „Quo vadis, Alki?“ beschreibe ich die Methode “Gedanken heraus schreiben“,  eine sehr  wirksame Methode, sich mentalen Ballasts zu entledigen, durch das  Niederschreiben von Gedanken in wenigen Minuten.
Man  nimmt  dazu einen Stift, ein Blatt  Papier,  konzentriert sich auf  seinen  Gedankenstrom und  schreibt  schnell und ohne zu überlegen auf, was  man im gegenwärtigen Augenblick gerade denkt, welche verschiedenartige  Gedanken durch den Kopf rasen. Das darf gerne vollkommen zusammenhanglos sein.  Man  braucht  keine gut formulierten Sätze, es genügen  Stichworte. Wichtig ist, schnell zu schreiben, damit man nicht im Denken  verharrt. Damit „entleert“ man seinen Kopf, indem man seinen inneren  Gedankenstrom allein durch die Motorik des Schreibens, durch die Bewegung ins  Außen bringt. Das entstresst und bringt oft auch ganz gute Textkreationen  hervor.
Vielen Dank für die aufschlussreichen und interessanten Antworten.