Kinder zu fördern gilt mittlerweile als selbstverständlich und das ist gut so. In Zeiten unserer Urgroßeltern genügte es wahrscheinlich noch, sie alle halbwegs satt, gesund und sauber zu kriegen. Heutzutage ist ein ganz anderer Anspruch da. Nicht zuletzt durch Leistungsgesellschaft und immer mehr Druck hervorgerufen, wollen Eltern ihren Kindern möglichst gute Chancen ermöglichen. Vieles wird dann unter dem Deckmäntelchen der Förderung angepriesen. Wollen Eltern auch nur einen Bruchteil der Möglichkeiten nutzen, gleicht der Terminkalender des Kindes schnell dem eines Top-Managers. Jede einzelne Maßnahme für sich hat ganz sicher ihre Berechtigung, doch in der Masse bleibt ganz schnell ganz viel anderes auf der Strecke.
Entwicklung läuft nicht nach Stundenplan
Entwicklung lässt sich nicht abfordern. Der Grashalm wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Jede Förderung setzt eine Basis voraus. Ist diese Basis (noch) nicht vorhanden, führen Förderversuche zu Frust. Wer noch keinen Stift halten und führen kann, kann nicht zeichnen. Wer noch nicht das Gleichgewicht halten kann, kann nicht Fahrradfahren. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Genauso endlos ist die Liste der Fördermöglichkeiten im Alltag. So viele vermeintliche Kleinigkeiten fördern Kinder. Ich hab mal genau hingeschaut, leider ausgelöst durch Beobachtungen, welche scheinbar banalen Fähigkeiten vielen Kindern fehlen.
Mengen, Gewichte und einfaches Bruchrechnen
Das alles kann ein Kind ganz anschaulich in der Küche erfahren. Rezepte für Becherkuchen arbeiten oft mit halben und teilweise viertel Bechern und auch wenn der fertige Kuchen oder die fertige Pizza geschnitten wird, entstehen Bruchteile. 100g sind eine normale Schokoladentafel, 1kg (=1000g) ist ein Päckchen Mehl oder Zucker und daraus 250g abgewogen, schafft eine anschauliche Vorstellung von diesen Einheiten. Die abstrakten Zahlen erhalten realistische Gegenbilder. Genial ist eine alte Waage mit Gewichten. Dabei bietet sich natürlich an, auch das Thema Ernährung anzusprechen. Obst und Gemüse schneiden, schälen und (roh) probieren macht Spaß und erweitert den Horizont. Das lässt sich auch mit einem Marktbesuch kombinieren.
Das Prinzip Bargeld kennenlernen
Klingt vielleicht doof, aber mir begegnen mittlerweile immer mehr immer ältere Kinder, die grundlegende Abläufe ums Geld nicht kennen. Angefangen bei ‚wenn Geld alle, gibt’s nix mehr‘ bis hin zu der entzückenden Vorstellung, dass man was kaufen kann und Geld zurückbekommt. Und der Ernüchterung, dass man für das Rückgeld weniger kaufen kann als für die Ursprungssumme. Ich vermute, dass diese Kinder es so wahrnehmen:
Einkaufen ist: im Supermarkt den Einkaufswagen volladen, an der Kasse aus irgendeinem Grund alles nochmal rausräumen, dann wieder einräumen und das Plastikkärtchen irgendwo durchziehen oder reinstecken und was tippen oder unterschreiben.
Abhilfe schafft da ein kleines, aber regelmäßiges Taschengeld zur freien Verfügung. So kann ein Kind die wichtige Erfahrung machen, dass Geld nicht nach Belieben nachwächst. Es muss die Chance haben, sein Geld auszugeben, darüber nachzudenken, wofür es das Geld ausgibt und auch die Erkenntnis haben dürfen, dass man Geld auch für größere Anschaffungen ansparen kann. Das alles am besten eigenverantwortlich!Knoten und Schleifen
Sie sind mittlerweile für acht- bis zehnjährige leider nicht mehr selbstverständlich. Als einen Hintergrund vermute ich (klingt vielleicht saublöd!) die Schuhe. Hat nicht fast jeder vermeintliche Schnürschuh inzwischen einen Reißverschluss an der Seite? Vom Klettverschluss sprechen wir lieber gar nicht erst. Knoten und Schleifen erfordern Überkreuzbewegungen. Diese helfen, die Hirnhälften zu vernetzen. Hektik der Tagesabläufe und vielleicht auch ein Stück Bequemlichkeit lassen diese grundlegenden Fertigkeiten auf der Strecke bleiben. Daraus resultierende Probleme zeigen sich erst viel später. Möglicherweise bleibt die räumliche Wahrnehmung auf der Strecke. Im besseren Fall beschränken sich die daraus erwachsenden Schwierigkeiten darauf, Kopfhörerkabel zu entwirren. Im schlechteren Fall wirkt es sich auch auf die Abschätzung von Entfernungen aus, was beispielsweise im Straßenverkehr fatale Folgen haben kann.
Natur erleben
Als Gegengewicht zu TV, Handy und Computer sind echte Naturerlebnisse gar nicht hoch genug einzuschätzen. Erleben mit allen Sinnen ist in der Natur selbstverständlich. Riechen, schmecken und fühlen kommt in der virtuellen Welt viel zu kurz. Wie duften denn die schönen Blumen, die auf Instagram so dekorativ in Szene gesetzt werden? Wie fühlt sich Baumrinde an? Auch Matsch und Dreck fördert die Entwicklung… und hey, wir haben Waschmaschinen, die den Brabbel aus Hosen und Jacken ohne großese Geschrubbe rauskriegen! Anfassen dürfen fördert das Fingerspitzengefühl! Balancieren auf Mäuerchen oder Baumstamm trainiert das Gleichgewicht! Und ein eigenes kleines Beet, selbst wenn es nur ein Balkonkasten ist, ist der Gipfel des Naturerlebnisses.
Miteinander Sprechen und Arbeiten
Auch das kommt mittlerweile im Alltag oft zu kurz. Gespräche fördern nicht nur das Sprachverständnis und den Wortschatz. Nachfragen schärft das Verständnis für Zusammenhänge. Was fehlt in der Erzählung? Hat derjenige, der zuhört, das erforderliche Hintergrundwissen? Was muss vorgestellt oder erklärt werden? Aufrichtiges Interesse stärkt zudem die Beziehung. Auch wenn Arbeit ansteht und ganz sicher wichtig ist, lassen sich Gespräche auch bei Arbeiten führen oder zumindest am Esstisch. Bei sehr vielen Arbeiten können Kinder sinnvoll mithelfen, ob im Haushalt, Garten oder beim Autoputzen. So ganz nebenbei können sie sich dabei noch so manchen Handgriff abschauen.
Förderung steckt in ganz vielen Aktivitäten, denen man das gar nicht ansieht. Diese Art der Förderung stärkt die Alltagskompetenz und wird auch in Zukunft nicht zu unterschätzen sein. Denn ganz ehrlich – meine absolute Horrorvorstellung ist eine Welt von ‚Fachidioten‘, in der gesunder Menschenverstand und Menschlichkeit außen vor bleibt.